Ein Daimon (altgriechisch δαίμων daímōn, Plural daímones) ist in der griechischen Mythologie und Philosophie ein Geistwesen (siehe Dämon in den Religionswissenschaften). Der Begriff kann sich auf einen Gott oder auf die Seele eines Toten beziehen; meist sind aber Wesen gemeint, die einer von Göttern und Menschen zu unterscheidenden Klasse angehören. Die daimones vermitteln zwischen Göttern und Menschen. Ein besonderes Konzept ist das des „persönlichen“ Daimons, die Personifikation der Schicksalsbestimmung eines Menschen. Dem griechischen Daimon entspricht weitgehend der römische Genius.
Homer verwendet den Begriff selten. Im homerischen Sprachgebrauch dient er zur Bezeichnung göttlicher Einflüsse, die keiner bestimmten Gottheit zugeschrieben werden. Bei Hesiod erscheinen die daimones erstmals als wohlwollende Begleiter des Menschen. Ihm zufolge sind sie die abgeschiedenen Seelen der Menschen des Goldenen Zeitalters:
Im Platons Politeia wird beschrieben, wie die Moiren, die griechischen Schicksalsgöttinnen, den Menschen mit seinem Schicksal verbinden:
Und weiter:
Und im Phaidon begleitet der Daimon den Menschen bis hinter die Schwelle des Todes:
Der Daimon erscheint bei Platon als ein zwar der göttlichen Sphäre angehöriges, aber nicht eigentlich göttliches Wesen. Das Schicksal kann gut oder schlecht sein, die vom Daimon verkörperte Schicksalsbestimmung wird aber als zum Guten gerichtet gesehen, ähnlich dem Schutzengel im Christentum. So bei Menander:
Der Daimon ist also ambivalent oder gut, die Verwandlung der Daimones in teuflische Dämonen war einerseits der gegen das Heidentum sich richtenden christlichen Polemik zuzuschreiben, andererseits gab es auch die Vorstellung von zwei den Menschen begleitenden Daimones, einem guten und einem bösen, wobei dem bösen Daimon: – dem Kakodaimon (Κακοδαίμων) – dann die üblen Taten zugeschrieben werden können. So erscheint bei Plutarch dem Caesarmörder Brutus eines Nachts eine schreckliche Gestalt, die auf die Frage, wer oder was er sei, antwortet: „Brutus, ich bin dein böser Daimon, du wirst mich bei Philippi sehen!“
Von dem persönlichen Daimon ursprünglich getrennt ist die Gestalt des Agathos Daimon, einer wohlwollenden Gottheit, der man nach dem Gelage Trankspenden ausbrachte und die besonders im ägyptischen Hellenismus und der Hermetik ein ganz eigenes Profil bekam.
Einen Sonderfall bildet das Daimonion des Sokrates. Dabei handelt es sich nicht um einen Daimon im Sinne eines eigenständigen Geistwesens, das einem Menschen begegnet. Vielmehr ist das Daimonion nach der Beschreibung, die Platon seinem Lehrer Sokrates in der Apologie in den Mund legt, eine innere Stimme, die Sokrates jedes Mal, wenn sie sich meldet, von etwas abrät, was er beabsichtigt, aber ihm nie zu etwas zurät. Platons Sokrates beschreibt diese Stimme als „etwas Göttliches und Daimonisches“ und als „Zeichen des Gottes“.
Literatur
- Ludwig von Sybel: Daimon. In: Wilhelm Heinrich Roscher (Hrsg.): Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Band 1,1, Leipzig 1886, Sp. 938 f. (Digitalisat).
- Otto Waser: Daimon. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (RE). Band IV,2, Stuttgart 1901, Sp. 2010–2012 (Digitalisat).
- Friedrich Andres: Daimon. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (RE). Supplementband III, Stuttgart 1918, Sp. 267–322 (Digitalisat).
- Henry George Liddell, Robert Scott: A Greek-English Lexicon: S. v. daimon. Clarendon Press, Oxford 1940. (online).
- Martin Persson Nilsson: Geschichte der griechischen Religion (= Handbuch der Altertumswissenschaft. 5. Abteilung, 2. Teil). Beck, München 1950, S. 199–202.