Michel de Montaignes Turmbibliothek befindet sich auf dem über Jahrhunderte hinweg mehrfach umgestalteten Gebäudekomplex des Familiensitzes von Michel de Montaigne, dem Château de Montaigne. Er liegt in der Gemeinde Saint-Michel-de-Montaigne, im Département Dordogne, Region Nouvelle-Aquitaine im Südwesten von Frankreich.
Bauliches
Das Schloss erfuhr in seiner Geschichte mehrere bauliche Veränderungen. Es handelt sich um eine zweigeschossige, geschlossene Vierflügelanlage mit annähernd quadratischem Innenhof, dessen rautenförmige Lage in Nord-Süd-Richtung ausgerichtet ist. In südlicher Richtung befindet sich das Eingangstor und rechtsseitig (in östlicher Richtung) der „Bibliotheksturm“. Der angrenzende Flügel führt in östlicher Richtung zum „Frauenturm“.
Der südlich des Hauptgebäudes gelegene „Bibliotheksturm“ besteht aus einem großen und einem kleineren runden Turm mit einem kleinen Wohngebäude und einem Spindeltreppenaufgang. Jede Etage weist eine leicht variierte Richtung der Fensteröffnungen auf. Der Turm ist der einzige authentische Überrest der Gebäude des 16. Jahrhunderts.
Man betritt den Turm über eine schmale Tür und gelangt zunächst in eine kleine Kapelle. Die Decke des gewölbten Oratoriums hat einen blauen Anstrich. An der Wand hinter dem kleinen in einer Mauernische befindlichen Altar ist links und rechts das Familienwappen als Fresko dargestellt. Dazwischen befindet sich eine Abbildung des Heiligen Georgs als Drachentöter.
Über eine schmale in der Wand verlaufende Spindeltreppe erreicht man den sich an den Mauerinnenbereich anlehnenden, seitlichen Rundturm und gelangt durch eine Tür in einen runden Wohn- und Schlafraum im ersten Stock; hier starb der Philosoph. Es finden sich ein großer Kamin sowie drei kleine Fenster. Im zweiten Stock gelangt man zur Bibliothek, die gleichzeitig Montaignes Arbeitszimmer war. Auch hier sind drei Fenster vorhanden. Die Bücher waren auf fünf im Rund angebrachten Regalbrettern aufgereiht. Montaigne hatte durch die vielen Fenster einen Blick auf Wiesen, Felder und den Wirtschaftshof, das Château de Montaigne liegt auf einem kleinen Hügel. Montaigne selbst beschreibt den Ort in den Essais:
Montaignes Schreibtisch stand wahrscheinlich vor dem kurzen „geraden Stück Wand“ auf der Nordostseite des Raumes, sodass sein Blick auf die beiden nach Süden (südwestlich bzw. -östlich) hin ausgerichteten Fenster fiel. Auch heute stehen dort ein Tisch und ein Stuhl, die allerdings nicht original sind.
Über eine Tür neben der Spindeltreppe erreicht man aus dem Bibliothekszimmer das von Montaigne erwähnte „recht wohnlich[e] klein[e] Arbeitszimmer“, das in nordwestlicher Richtung angebaut ist. Es ist mit zum Teil stark erodierten Fresken geschmückt. An seiner hinteren Wand befindet sich ein Kamin, die einzige Heizmöglichkeit auf diesem Stockwerk. Dieser Raum diente Montaigne daher als Winterarbeitszimmer.
Umstände
Von seinem achtunddreißigsten Lebensjahr an, im Februar 1571, zog sich Michel de Montaigne in seine Turmbibliothek im Château de Montaigne zurück. Er hatte sein Amt als Richter in Bordeaux verkauft. Hier in seinem „Turm“ nahm er sein umfangreiches Lebenswerk, die Essais, in Angriff. Die ersten beiden Bände erschienen 1580. Bis zu seinem Tode im Jahre 1592 schrieb Montaigne an seinem Werk, das er häufig überarbeitete und mit Hilfe von Notizen ständig erweiterte.
Eine lateinische Inschrift an der Wand der Bibliothek lautet auf Deutsch:
Der Buchbestand
Der Grundstock dieser Bibliothek stammte größtenteils aus dem Vermächtnis seines Freundes Étienne de La Boétie der im Jahre 1563 an der Dysenterie oder der Pest verstarb. Es waren hier etwa tausend Bücher auf den Regalen aufgereiht. Die wenigen Bücher, die aus seinem Bestand noch erhalten sind, weisen häufig von Montaigne verfasste Randnotizen, sogenannte Scholien auf.
Inschriften auf den Deckenbalken
Die Holzbalkendecke im Bibliotheksraum weist zwei große tragende Balken in nord-südlicher Ausrichtung auf. Zwischen diesen spannen sich kleinere Querbalken, die von den beiden Hauptbalken in drei Fächer unterteilt sind. Diese Balken sind mit 54 sichtbaren Inschriften versehen, je vier auf den beiden Hauptbalken und je eine in fast allen Fächern der Querbalken. Diese Inschriften, die aus altgriechischen und lateinischen Zitaten bestehen, wurden um 1770 von Joseph Prunis wiederentdeckt, als dieser das Château besuchte und auch Montaignes Reisetagebuch auffand, und 1861 von Édouard Galy und Léon Lapeyre erstmals umfassend beschrieben. Die Anbringung der Texte wird seitdem einhellig auf Montaigne selbst zurückgeführt. Auf 21 Balken konnte unter der sichtbaren Inschrift eine andere, ältere nachgewiesen werden; Montaigne hat hier also die Beschriftung der Balken nochmals ändern lassen. Von den unten liegenden, überschriebenen Inschriften konnten 14 rekonstruiert und identifiziert werden, von 2 weiteren sind wenige Buchstaben erhalten, die restlichen 5 sind ganz unlesbar. Insgesamt konnten somit 68 Inschriften identifiziert werden, 30 griechische und 38 lateinische. Von den griechischen Texten gehen 14 auf die Schriften des Sextus Empiricus und Diogenes Laertios zurück, aus denen Montaigne den Pyrrhonismus kennengelernt hat, die meisten anderen griechischen Zitate wurden der Exzerpten-Sammlung des Johannes Stobaios entnommen. Die Quellen der lateinischen Zitate sind vielfältig. Die lateinischen Bibelzitate weichen oft vom Wortlaut der Vulgata ab, sie sind offenbar einer bisher nicht ermittelten Übersetzung entnommen.
Einfluss auf das Schreiben
Einige Historiker, so etwa Edouard Galy und Léon Lapeyre (1861) befürworteten die Hypothese, dass die Umgebung des Turms auch Montaignes Schreiben beeinflusst habe. Er habe sich nicht nur von den Büchern in seiner Bibliothek inspirieren lassen, sondern auch von den Gemälden sowie den an allen Wänden und Decken angebrachten Zitaten, wie die Verwendung der Zitate in den Aufsätzen zeige. Das Ausmaß und die Art dieses Einflusses bleibt jedoch schwer zu bestimmen. Montaigne selbst geht auf die Bedeutung der Bibliothek für sein Schreiben im dritten Teil seiner Essais ein. Die neuere Forschung tendiert dazu, Montaignes persönliche Herangehensweise durch sich-inspirieren-lassen und durch „eine Struktur, die auf Vergleich und Kontrast beruhte,“ für seine assoziative Schreibweise verantwortlich zu machen. Auch Alain Legros warnt davor, die Inschriften mit Montaignes eigenem Denken gleichzusetzen:
Aktuelle Situation
Nach dem Brand des Schlosses im Jahre 1885 blieb u. a. der Turm unbeschadet. Marie Thirion Mautauban veranlasste die Wiedererrichtung und Umgestaltung des Schlosses. Als Teil der Domaine de Michel de Montaigne ist das Anwesen immer noch im Privatbesitz der Familie Mähler-Besse (6. und 7. Generation nach Pierre Magne). Der Schlossinnenhof und auch der Turm sind für die Öffentlichkeit regelmäßig im Rahmen von Führungen zugänglich. Am Eingang können u. a. die Eintrittskarten erworben werden. Für behinderte Menschen bzw. schwerbeschädigte Personen aus der EU ist der Eintritt frei. Entlang eines Parkweges gelangt man zum Tor und darüber in den Schlosshof, der Turm Montaignes liegt rechter Hand nahe dem Eingang. Für Rollstuhlfahrer ist der Weg beschwerlich. Der Aufstieg zum Turm setzt ein unbeeinträchtigtes Gehvermögen voraus. Die fundierten Führungen finden nur in französischer Sprache statt. Audioguides sind nicht vorhanden; im Boutiquebereich werden aber laminierte Texte mit Erläuterungen zu den einzelnen Etagen des Turmes in verschiedenen Sprachen zur Verfügung gestellt (Stand Oktober 2019).
Obgleich der französische Staat das Objekt im Jahre 1992 unter der Rubrik Monuments historiques (Historische Denkmäler) erfasste, scheint die sachgerechte Konservierung des Baudenkmals die privaten Träger zu überfordern. Zuständig für die Monuments historiques ist das Kulturministerium, Ministère de la Culture et de la Communication, das die Base Mérimée unterhält.
Literatur
- Édouard Galy, Léon Lapeyre: Montaigne chez lui. Visite de deux amis à son château. J. Bounet, Périgueux 1861 (Digitalisat)
- Alain Legros: Essais sur poutres. Inscriptions et peintures de la tour de Montaigne, berceau des Essais. 2e édition revue et corrigée. Klincksieck, Paris 2003, ISBN 2-252-03317-7
Weblinks
- Offizielle Website von Schloss Montaigne (en/fr/es)
- Restitution 3D de la « librairie » (fr)
- Alain Legros: Sentences peintes au plafond de la bibliothèque de Montaigne. Édition revue et augmentée (2015).
- Alain Legros, P. Mora: Sentences peintes au plafond de la « librairie » mit Orthofotografie der Inschriften
- Renaud Camus: Visite à Montaigne (fr)
Einzelnachweise